#66: Bilanz

Stuttgart 21 im Jahr 2016: für die meisten nur noch ein Grund zum Kopfschütteln. Denn das Projekt strotzt nur so vor Planungsmängeln, Regelverstößen und Ausnahmegenehmigungen. Und immer mehr Lügen und Tricks hinsichtlich Bauzeit, Leistungsfähigkeit, Risiken und Kosten kommen ans Licht. Viele fragen sich: Kann Deutschland noch Großprojekte? Doch die Frage ist falsch gestellt und vernebelt mehr, als sie erhellt …

Denn die wesentlichen Mängel und Probleme von Stuttgart 21 sind längst bekannt – spätestens seit dem öffentlichen Faktencheck 2010. Die Verantwortlichen wissen, was sie tun: »Hier sind keine Hasardeure und Idioten tätig!«, verteidigte Bahn-Anwalt Peter Schütz im Oktober 2015 das Projekt. Die Frage müsste also richtig lauten: Was hindert »Deutschland« daran, derart schädliche Großprojekte abzubrechen?

Murks als Geschäftsmodell

Für die Deutsche Bahn AG ist die Antwort klar: Jeder Abriss von Infrastruktur mitsamt sich anschließenden Neu-, Fehl- und Umplanungen spült ihr neues Steuergeld in die Konzernkasse. Je mehr sündhaft teure Tunnelbau-Planungen also, desto mehr Geld. Und werden die Verluste zu groß, hilft der Staat mit einer Finanzspritze. Hier gilt in besonderem Maße, was DIE ZEIT im Juli 2015 feststellte: »Kaum etwas ist für viele Firmen profitabler als eine Baustelle, auf der nichts vorangeht: Jede Verzögerung bringt Millionen. … Manche Panne ist keine Panne mehr, sondern ein Geschäftsmodell«.

Willkommen im postfaktischen Zeitalter

Und solange sich das für Bahn, Banken und Baukonzerne rechnet, wird sich kaum ein Volksvertreter mit Karriereambitionen finden, der bereit ist, sich die Finger zu verbrennen und einen Projektabbruch zu fordern. Dann schon lieber Tatsachen ignorieren und offensichtliche Lügen akzeptieren, besser gefühlte Wahrheiten anstelle von Fakten ins Feld führen. Mit genau diesen Worten umschrieb übrigens die Gesellschaft für deutsche Sprache ein Gebaren, dem sie soeben das Wort des Jahres 2016 widmete: »postfaktisch«. In dieser Hinsicht unterscheiden sich unsere politischen Eliten also nicht von ihren Feinden – von Trump über Putin und Erdogan bis hin zur AFD. Wie kann Demokratie angesichts dieser doppelten Bedrohung – von außen und von innen – verteidigt und verwirklicht werden? Das ist die Aufgabe, vor die uns Stuttgart 21 im Kontext der weltpolitischen Lage stellt. Ihr werden wir uns widmen – in welcher Form, wird sich zeigen.
Redaktion Tunnelblick, im Dezember 2016